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  • AutorenbildSönke Stiller

Einfache juristische Texte – das kann nicht funktionieren…

…und was ein verdienter Ig-Nobelpreis damit zu tun hat

Juristische Texte müssen kompliziert sein. Diese Ansicht ist nicht neu. Aber Eric Martínez, Francis Millica und Edward Gibson wollten genau wissen, warum juristische Texte eigentlich kompliziert sind. Also haben sie juristische und nicht-juristische Texte verglichen und untersucht. Einer der ersten Sätze im Abstract ihrer fertigen Studie lautet:


„Hier offenbarte eine Korpusanalyse (n ≈10 Millionen Wörter), dass Verträge erschreckend hohe Anteile bestimmter, schwer zu verarbeitender Merkmale enthalten – darunter selten benutzte Fachausdrücke, in der Mitte eingebettete Klauseln (was zu syntaktischen Abhängigkeiten über große Entfernungen führt), Passivkonstruktionen und nicht standardmäßige Großschreibung – verglichen mit neun anderen grundlegenden Textgattungen des gesprochenen und geschriebenen Englisch.“


Für die Vermittlung ihres Forschungsthemas in der passenden Sprache erhielten die drei wackeren Wissenschaftler den satirischen Ig-Nobelpreis für Literatur 2022. Ein verdienter Titel, wie ich finde. Herzlichen Glückwunsch!


Bei allem Spott können wir inhaltlich etwas mitnehmen: Juristische Texte sind schwierig, weil sie

  • komplizierte Wörter

  • Schachtelsätze

  • Passivkonstruktionen

  • und, laut der genannten Studie, eine abweichende Groß- und Kleinschreibung

nutzen.


Auf die Wortwahl kommt es an

Schachtelsätze, Passivkonstruktionen und abweichende Groß- und Kleinschreibung zu vermeiden ist eigentlich nicht übermäßig schwer. Bleibt die Wortwahl. Konzentrieren wir uns also darauf, sonst wird dieser Text zu lang.


Zum juristischen Fachvokabular gehören nicht nur Fremdwörter, sondern auch ganz gewöhnliche Wörter mit einer besonderen Bedeutung. Juristinnen und Juristen begründen das mit der nötigen Genauigkeit: Sprache kann mehrdeutig sein. Begriffe mit genau definierten Bedeutungen sorgen für Rechtssicherheit.


„Grundsätzliches“

Lars Iking, ein Jurist am Lehrstuhl von Prof. Dr. Peter Gröschler an der Uni Mainz, hat eine wunderbare Serie namens „Deutsch für Juristen“ geschrieben. Eine Folge handelt von meinem Lieblingsbeispiel, dem Wort „grundsätzlich“. Er führt darin folgendes aus:


Allgemein verstehen wir „grundsätzlich“ oft als Verstärkung. Es bedeutet so etwas wie „immer“, „ganz und gar“, „aus Prinzip“ oder „kategorisch“, so wie in „Ich sehe das grundsätzlich anders als du.“ oder „Ich lehne Tierquälerei grundsätzlich ab.“.


Anders ist es bei den Juristen. Wörtlich schreibt Iking: „Demgegenüber dient »grundsätzlich« im juristischen Sprachgebrauch dazu, einen Grundsatz zu kennzeichnen, der Ausnahmen zulässt – und geradezu erwarten lässt.


Das Wort „grundsätzlich“ bedeutet in der juristischen Fachsprache etwa „Die Regel lautet zwar folgendermaßen, aber Achtung: ES GIBT AUSNAHMEN!“. Juristinnen und Juristen benutzen das Wort, um auf mögliche Ausnahmen hinzuweisen. Es schränkt also eine Regel ein, statt sie zu verstärken.


Geht es auch anders?

Letztlich ein Beispiel von vielen, veranschaulicht es eines sehr schön: Das Ziel der Genauigkeit wird innerhalb der Fachsprache voll und ganz erreicht. Juristinnen und Juristen wissen, dass „grundsätzlich“ eine Einschränkung ist. Sie haben geradezu einen Reflex entwickelt, bei der Erwähnung des Wortes „grundsätzlich“ nach der Ausnahme zu suchen. Aber Laien überlesen das Wort oder missverstehen es sogar als Verstärkung der Regel. Der Inhalt, der verstanden wird, ist dann schlicht falsch.


Das wiederum ist ein echtes Problem für die 99 % von uns, die keine juristische Bildung genossen haben. Wir alle müssen uns mit Rechtstexten herumschlagen, die wir kaum verstehen: mit Arbeitsverträgen, Miet- und Kaufverträgen oder AGBs (die kaum jemand liest).


Müssen juristische Texte wirklich so geschrieben sein? Das Normungsvorhaben ISO/NP 24495-2, Plain language — Part 2: Legal Writing and Drafting, versucht derzeit, einen Vorschlag für eine einfache, rechtssichere Sprache zu machen. Ein spannendes Vorhaben. Bis es so weit ist, können Sie juristische Texte auf folgende Weise verständlicher machen:

  • Sie können dem Vertrag eine inhaltliche Zusammenfassung voranstellen. Diese gehört nicht zum eigentlichen Vertrag, fasst aber seine wesentlichen Ziele zusammen.

  • Sie können mit grafischen Elementen arbeiten. Das sorgt für Lesefreundlichkeit.

  • Sie können Beispiele geben. Beispiele helfen, komplizierte Inhalte verständlicher zu machen.

  • Sie können kurze Sätze und aktive Formulierungen verwenden.

Was denken Sie? Geht das – eine verständliche und zugleich rechtssichere Sprache? Haben Sie damit Erfahrungen? Ich bin gespannt und freue mich auf Ihre Kommentare!


Herzliche Grüße

Sönke Stiller

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