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  • AutorenbildSönke Stiller

Barrierefrei und inklusiv?

„Endlich haben wir eine inklusive Website“, sagte neulich ein Kunde zu mir. Ich widersprach ihm, obwohl wir gerade einen Text in Leichter Sprache für seine Website geschrieben hatten. „Aber darum geht es doch bei Leichter Sprache, oder?“, fragte er verunsichert. Das war wieder einmal ein Anlass, über den wichtigen Unterschied zwischen Barrierefreiheit und Inklusion zu sprechen – und heute zu schreiben.


Barrierefreiheit

Bei Barrierefreiheit geht es dem Wortsinn nach darum, Hindernisse zu beseitigen. Die Frage ist also: Durch was werden Menschen behindert? Wenn man nicht die Hindernisse in den Mittelpunkt stellt, sondern die Perspektive eines Menschen mit Behinderung einnimmt, geht es um Zugänglichkeit. Barrierefreiheit bedeutet also, dass alles für alle zugänglich ist: jeder Weg, jede Information, jedes Medium und so weiter.


Beispiele gibt es viele: stufenlose und ebene Wege, Nachrichtensendungen mit Gebärdendolmetscher*in, Stadtpläne zum Fühlen, Texte in Leichter Sprache. Oft entstehen auf diese Weise zwei getrennte Lösungen. Eine Lösung für die große Mehrheit und eine separate Lösung für eine kleine Gruppe von Menschen, die sonst ausgeschlossen wäre. Deshalb gibt es Treppen und Aufzüge im gleichen Gebäude, Nachrichten mit und ohne Gebärdendolmetscherin, den Stadtplan auf Papier und als ertastbares Modell, die Website in Standardsprache und Leichter Sprache. Für die Herstellung von Barrierefreiheit gibt es vielerlei technische Standards.


Inklusion

Der Begriff Inklusion bedeutet „einschließen“ und meint eine Gesellschaft, in der alle Menschen teilhaben. Inklusion bezieht sich nicht nur auf Menschen mit Behinderungen, sondern ist allgemein sensibel für benachteiligte und ausgegrenzte Menschen. Inklusion geht über Integration hinaus („du kommst dazu, wirst wie wir schon sind und dann darfst du mitmachen“). Inklusion will alle Menschen gleichberechtigt einbeziehen – so wie sie sind.


In diesem Sinne ist geschlechtergerechte Sprache eine inklusive Idee. Es geht darum, alle Menschen anzusprechen – und eben nicht nur Männer. Aber geschlechtergerechte Sprache ist nicht barrierefrei. Und deshalb schließt sie Menschen aus - nämlich diejenigen, die den Inhalt nicht verstehen, weil der Text zu kompliziert wird. So scheitert - ohne weitere Bemühungen - auch die inklusive Idee.


Wie geht beides zusammen?

Wenn Kinder mit Behinderungen an Förderschulen unterrichtet werden, ist die Herstellung von Barrierefreiheit relativ einfach. Aber die Förderschule an sich widerspricht dem Gedanken der Inklusion. Inklusiv wäre nur eine barrierefreie Schule für alle Kinder. Was dafür nötig ist, muss bereitgestellt werden – seien es rollstuhlgerechte Toiletten, eine technische Ausstattung oder ein Schulbegleiter.


Barrierefreiheit und Inklusion sind also nicht das gleiche. Sie schließen einander aber auch nicht aus. Das Ziel der Inklusion braucht barrierefreie Mittel. Einer wirklich inklusiven Welt am nächsten wären wir, wenn wir dafür keine getrennten Systeme bräuchten. Es wäre eine Welt, in der keine Hebebühne am Zug nötig wäre, weil der Einstieg sowieso stufenlos wäre. Es wäre eine Welt, in der eine Website nur Bilder enthält, zu denen es einen Alternativtext gibt. Beide Beispiele ermöglichen Inklusion durch barrierefreie Mittel, die niemanden aus der Mehrheitsgesellschaft „stören“. Wahrscheinlich bemerken viele nicht einmal, wenn der Zug stufenlos und die Website für sehbehinderte Menschen zugänglich ist.


In manchen Bereichen wird es auch in einer inklusiven Welt separate Lösungen geben; beispielsweise weil sehende Menschen gedruckte Buchstaben und blinde Menschen Brailleschrift lesen und das für alle Beteiligten ziemlich praktisch ist. Wichtig ist aus der Sicht der Inklusion nur, dass beides möglich ist – und ein Zusammenleben möglich macht.


Mein Fachgebiet sind Leichte Sprache und Einfache Sprache. Leichte Sprache ist barrierefrei. Aber sie ist nicht wirklich inklusiv. Sehr wenige Menschen außerhalb der Zielgruppe nutzen sie. Sie ist und bleibt eine „Notlösung“ für eine kleine Minderheit. Einfache Sprache ist nicht vollständig barrierefrei, aber in ihrer Idee inklusiver als die Leichte Sprache. Sie will möglichst viele Menschen gleichzeitig ansprechen.


Was denken Sie: Trägt die Leichte Sprache zu Inklusion bei oder separiert sie Menschen? Und falls Sie die Leichte Sprache an dieser Stelle skeptisch sehen: Ist eine barrierefreie und inklusive Sprache möglich? Ich bin gespannt!

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